Fotografien von Peter Schanz
Im tiefen Wald, wo Bayern, Sachsen und Tschechien aneinander stoßen, nimmt ein Wanderer eine Spur auf, die vor 20 Jahren selbst vom Weltraum aus unübersehbar war: die alte Grenze zwischen zwei Deutschlands und zwei Welten, damals befestigt mit Mauern, Stacheldraht, Selbstschussanlagen und Minenfeldern. Der Wanderer läuft fast drei Monate und knapp 1.500 Kilometer über Berg und Tal bis ans Meer. Er trifft Menschen, die links und rechts dieser mäandernden Nahtstelle leben; er erfährt von bitterer Enttäuschung und von großer Dankbarkeit gegenüber dem Wandel der Geschichte. Er merkt bald: es gibt viel zu lernen, er muss Nachsitzen in deutscher Volkskunde. Und er muss sich selbst ertragen, sein Übergewicht, seinen Rucksack, seine Kreuzschmerzen – er arbeitet sich ab an sich und seinem Land.
Der Weg, den der Wanderer geht, ist der Kolonnenweg, auf dem die DDR-Grenztruppen patrouillierten, kontrollierten, observierten: ein Band – eigentlich zwei Bänder – ausgelegter Betonplatten, jeweils drei Meter lang und einen Meter breit, mit einer Lochgitterstruktur in sieben Quer- und vier Längsreihen, mit 28 Löchern pro Platte. Die Platten sehen manchmal aus wie bis gestern im Einsatz, gepflegt, der Beton wie gebürstet, messerscharf die Kanten, vom Unkraut befreit. Dann wiederum ist der Kolonnenweg zu einem Pfad verwildert, eingewachsen, versumpft, oder von kaum zu durchdringendem zwanzig Jahre altem Urwald überwuchert. Und immer wieder führt dieser elende K-Weg, der errichtet wurde, um Menschen, die ihr Grundrecht auf Freizügigkeit wahrnehmen wollten, besser erschießen zu können, unter strahlend blauem Himmel durch wundersam üppig blühende Landschaften. Wie soll einer damit zurechtkommen?
Der Wanderer nimmt die Bilder auf, die vor ihm auf dem Weg liegen: gelochte Betonplatte in freier Natur. Acht Löcher pro Augen-Blick. Wie eine Meditation verlaufen 1393 Kilometer Langstrecken-Untersuchung zur deutschen Vereinigung: Worüber eigentlich ist hier Gras gewachsen? Wer hat diese vielhunderttausend Platten verlegt? Wer hat Zäune gezogen, Gräben ausgehoben, Minen verteilt und Selbstschussanlagen montiert? Ist eine Aufgabe weniger herkulisch, wenn sie zu Zwecken der Körperverletzung mit Todesfolge geschieht? Wie schnell werde ich den Gedanken los, dass ich hier eine ehemalige Grenze entlang laufe? Wie schnell richte ich mich ein, in meiner Gewohnheit, im Alltäglichen, in einem totalitären System?
Und wie schnell räumt man das alles wieder auf? Wie schnell wurde anderswo Ausgestorbenes hier wieder heimisch, wo alles auf ewig mit Herbiziden verseucht war? Und was soll ich da jetzt für Schlüsse daraus ziehen, dass unsere deutsche Natur nirgendwo so intakt ist, wie hier, wo sie am zerrissensten war?
Zum Projekt ist im Aufbau-Verlag Berlin das Buch „Mitten durchs Land. Eine deutsche Pilgerreise“ erschienen. Aufbau Verlag >>
bildkultur präsentiert die Reihe mittendurchsland
als Ausstellung:
Peter Schanz
Peter Schanz wurde 1957 geboren in Bamberg. Er studierte Germanistik, Geschichte und Politologie in Würzburg, Graz und München.
Ab 1984 Engagements als Dramaturg und Regisseur an verschiedenen deutschen Theatern, zuletzt 1997–1999 als Künstlerischer Direktor am Staatstheater Braunschweig.
Seit 1999 arbeitet Peter Schanz freiberuflich als Autor und Dramaturg.
www.peterschanz.de >>